Adventskalender 8.12.2009
#1
[Bild: 3362750.jpg]


"Peter 8-14 für Zentrale, kommen!"
"Achtvierzehn hört..."
"Ihr Standort?"
"Westumfahrung, Höhe Sportpark."
"Verdächtige Geräusche in der Kolonie Sonnenschein -
möglicherweise hilflose Person oder Einbruch."


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Während Heiko Beck die Augen verdrehte und genervt stöhnte, nahm ihm der alte Kröger das Mikro aus der Hand, brummte ein kurzes „Ok, übernehmen“ und wendete den Wagen.

Verdammte Scheiße nochmal, eine Stunde vor Schichtende!

Heiko hatte viele Probleme, eigentlich zu viele. Die Bank hatte die Möbelfinanzierung für die neue Wohnung abgelehnt, mit den Raten fürs Cabrio war er im Rückstand, und Nadine zickte wegen seiner Überstunden ständig rum. Außerdem war Heiligabend, in zwei Stunden machten die Läden dicht, und er brauchte noch ein schickes Weihnachtsgeschenk. Klunker, ein fetziger Fummel, Karten für Robbie Williams… irgendwas. Sie waren schließlich erst seit sechs Monaten zusammen, da wollen die Mädels noch beeindruckt werden!

Klar, der alte Kröger, dem war es wurscht, ob er an Weihnachten eine Stunde früher oder später heim zu seiner Ollen kam. Nach dreißig Jahren Ehe gibt’s dann wie immer eine Ente, dann Bescherung, Socken, Parfüm, dann ab vor die Glotze, weißblaue G‘schichten mit Gustl Bayrhammer, dann schlafen gehen. Wie üblich eben.

Aber seine Nadine, die war ein Luxusweibchen, da musste er sich noch richtig anstrengen, die gab sich nicht mit Kleinkram zufrieden!

Und überhaupt, was heißt hier „hilflose Person oder Einbruch“? In der Laubenkolonie gab es nichts zu holen. Die einzigen Personen, die sich im Winter dort rumtrieben, waren stinkende Penner, die sich nachts in den leerstehenden Gartenhütten verkrochen. Oder ein paar zugekiffte Kids aus der Plattensiedlung nebenan. Fackeln eine der Buden ab und finden das cool. Oder hauen sich gegenseitig aufs Maul. Trifft keinen Falschen, ist sowieso alles nur Pack. Säufer, Schmarotzer, Ausländer.

So hatte sich Heiko das nicht vorgestellt, als er letztes Jahr zur Polizei kam. Die richtig fetten Bosse wollte er jagen, mit Blaulicht und Ballermann, so wie in Miami Vice. Und jetzt…

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Das Holpern des Streifenwagens riss ihn aus seinen Gedanken, als sie in das öde Vorstadtghetto einbogen. Auf den verwahrlosten Grünflächen zwischen den Mietskasernen und an der Ecke des ausgebrannten Discounters lungerten die Halbstarken herum. Heiko rutschte unwillkürlich tiefer in den Sitz, aber Kröger lenkte den Passat zügig und sicher bis ganz nach hinten, wo die Schlaglochstraße in die Laubenkolonie führte.

Die Schrebergartennummer, die sie von der Zentrale erhalten hatten, war schnell gefunden. Das Tor hing schief in den Angeln, doch die frischen Spuren auf der dünnen Schneedecke verrieten, dass erst vor Kurzem mehrere Personen zur Hütte gegangen waren. Na toll, eine Pennerparty!

Kröger stutzte. Da knarrte und scharrte es in der Hütte, und ein leises Weihnachtslied, unterbrochen von kläglichem Wimmern, drang nach draußen. Sie klopften an die Tür - nichts. Sie rüttelten - abgeschlossen. Auch die Fenster waren verrammelt und die Ritzen mit alten Zeitungen verstopft. Heiko stellte sich in einigen Metern Abstand zur Tür breitbeinig auf und wollte schon nach seiner Walther greifen, doch Kröger hielt ihn zurück. Er lauschte nochmal, dann brach er mit einem entschlossenen Tritt durch die wacklige Brettertür.

Sofort strömte den beiden der stechende Geruch von Gas entgegen. Während Heiko regungslos dastand, holte Kröger tief Luft, stürmte in die Hütte und tauchte mit dem schlaffen Körper einer Frau wieder auf, den er nach draußen zog und vorsichtig auf die Erde legte. „Beweg‘ Deinen Arsch, Kerl, oder wirst Du fürs Gaffen bezahlt...?“ schrie er Heiko an.

Hustend und schnaufend zerrten sie noch einen Mann und vier Kinder aus der Laube, alle genau so dunkelhäutig, schwarzhaarig und ärmlich gekleidet wie die Frau und ebenso regungslos wie sie. „Kümmer‘ Dich um sie!“ rief Kröger und rannte so schnell er mit seinem Rheuma eben konnte zum Wagen, um die Rettung anzufordern.

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Heiko setzte sich keuchend ins Gras und schaute auf die sechs Gestalten, unfähig und unwillig etwas zu tun. Was waren sie: Türken, Araber, Zigeuner? Jedenfalls Kanaken, keine Deutschen, das sah man. Scheiße, und das mir, an Heiligabend - verschwitzt, verdreckt und ohne Geschenk für Nadine!

Plötzlich kam die Frau wieder zu sich. Sie schlug die Augen auf und blickte voller Panik um sich. „Baby… Baby…“ stammelte sie kaum hörbar. ‚Baby‘ hörte Heiko. Und er hörte das leise Weihnachtslied, das aus einem Kofferradio kam. Dachte an seine Nadine, mit der er sich ein Kind wünschte. Oder zwei. Einen ganzen Stall voller kleiner, süßer Babys, den wunderbarsten Geschöpfen auf Erden.

Ohne nachzudenken sprang er auf und stolperte zurück in die Hütte. Die entsetzten Rufe Krögers, der gerade vom Streifenwagen zurückkam, drangen nicht zu ihm durch, und er wusste auch nichts von dem defekten Kabel des alten Radios in dem gasgeschwängerten Raum, das immer noch ‚Stille Nacht‘ dudelte. Er hatte nur ‚Baby‘ im Ohr, als er suchend um sich blickte und endlich das wimmernde, in schmutzige Decken gewickelte Bündel Mensch entdeckte. Mit dem Kind auf dem Arm taumelte er zum Ausgang.

Er war schon fast durch die Tür. Den Funken und die Detonation nahm er gar nicht mehr wahr. Das Letzte, was er spürte, war die unsichtbare Faust in seinem Rücken, die ihn von den Beinen holte. Heiko hob ab und schwebte, er schwebte immer weiter, sanft und friedlich der Sonne entgegen, und die gellenden Schreie der Frau, das verzweifelte Rufen seines Kollegen, sie wurden leiser und leiser, hallten aus immer weiterer Ferne zu ihm herüber und verschmolzen schließlich zu einem himmlischen Chor, der nicht mehr von dieser Welt war…

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„Fraktur des rechten Unterarms, Hämatome im Thoraxbereich, mittelprächtige Gehirnerschütterung, diverse Platz- und Schürfwunden – keine Bange, das wird wieder.“

So hatte sich Heiko immer den Lieben Gott vorgestellt: langes weißes Gewand, weiße Haare, gütige Stimme. Doch Gott referiert nicht über medizinische Befunde, also konnte das blonde Wesen an seiner Seite auch kein Engel sein.

Nachdem der Stationsarzt das Zimmer verlassen hatte, beugte sich Nadine zu Heiko hinab und lächelte ihn an:
„Da bist Du ja wieder, Du Langschläfer! Wie fühlst Du Dich?“
„Ich… weiß nicht… müde. Ich… was ist passiert?“
„Das Gartenhaus ist explodiert, als Du mit dem Baby gerade an der Tür warst. Herr Kröger hat Erste Hilfe geleistet, bis der Notarztwagen kam.“
„Und die Leute…?"
„Ich weiß nur, dass es ihnen soweit gut geht, aber jetzt werden sie wohl doch abgeschoben. Man hat mir gesagt, dass sie im Iran einer christlichen Minderheit angehörten und bei uns Asyl beantragt hatten. Der Ablehnungsbescheid kam einen Tag vor Heiligabend.“

Es klopfte, und herein kam das merkwürdigste Paar, das Heiko jemals gesehen hatte. Beide um die 60, der Mann mit Halbglatze und in ausgebeulten Jeans und Holzfällerhemd, die Frau trug ein quietschbuntes Wickelkleid und hatte das graue Haar zu einem langen, dicken Zopf geflochten.

„Herr Kröger…?“ stammelte Heiko ungläubig.
„Na, Du Held?“ grinste der alte Kröger, und seine Frau lächelte Heiko aus warmen, mitfühlenden Augen an. „Sag‘ Kurt zu mir. Das hier ist übrigens meine Gerda. Bedank‘ Dich artig – wir haben extra unsere Abfahrt verschoben, bis Du aufwachst!“
„Sie… Du… ich meine, Ihr wollt… verreisen?“
„Na klar doch, wie jedes Jahr! Zuerst die Weihnachtsfamiliensause bei den Kindern und Enkeln, und dann geht’s ab, mit dem VW-Bus nach Nizza!“
„Dort haben wir uns nämlich vor 32 Jahren kennengelernt, auf einem Rockfestival“, ergänzte Gerda und kniff ihren Kurt zärtlich verschmitzt ins Ohr.

Aber da war Heiko schon wieder eingeschlafen.

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Draußen regnete der April vor sich hin, und drinnen langweilte sich Heiko zu Tode. Die lange Krankschreibung nervte, er kam sich überflüssig vor und hatte viel zu viel Zeit, um seinen Gedanken nachzuhängen. Gedanken an Kurt, den heimlichen Rocker. An Gerda mit dem jugendlichen Funkeln in den Augen. An die Familie, von deren ungewissem Schicksal er nichts mehr gehört hatte. Aber wenigstens füllte sich ihre Wohnung allmählich mit Gemütlichkeit, nachdem Nadines Eltern das Möbel-Sponsoring übernommen hatten.

Es klingelte. Nadine konnte es nicht sein, die nahm zum Einkaufen immer ihren Schlüssel mit. Vielmehr stand ein DHL-Bote mit einem Päckchen vor der Tür. Im Wohnzimmer entnahm Heiko den Brief, der zuoberst lag und den Absender einer Organisation namens Human World Now trug:

„Lieber Herr Beck, auf diesem Wege möchten wir uns ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Dank Ihres mutigen Engagements und durch das anschließende Medienecho wurden wir auf den Fall der Familie Al-Faghiri aufmerksam. Aufgrund unserer internationalen Hilfskontakte war es uns kurzfristig möglich, den Eltern und ihren Kindern noch vor der drohenden Abschiebung die Ausreise nach Kanada zu vermitteln. Herr Al-Faghiri wird demnächst eine Tätigkeit als Gastdozent für Mathematik und Physik aufnehmen, seine Frau arbeitet von zu Hause aus als Dolmetscherin…“

Heiko griff in das Paket und brachte lauter kleine Tüten und Dosen zum Vorschein, alle gefüllt mit Gebäck, das einen starken, süßen Duft nach orientalischen Gewürzen verströmte. Und ganz unten, beinahe hätte er sie übersehen, lag eine Karte. Das Foto einer dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Familie, Vater, Mutter, vier Kinder und ein Baby, die auf einem Sofa saßen und ihn freundlich anlächelten.

Er drehte die Karte um. In sauberen Druckbuchstaben stand dort: „Gott schütze Sie und Ihre Familie!“ Und darunter, von krakeliger Kinderhand geschrieben: „Fröhliche Weihnachten, Onkel Heiko!“

Heiko besah sich wieder das Foto. Die Eltern und ihre Kinder schienen ihm direkt in die Augen zu schauen.

„Fröhliche Weihnachten, Onkel Heiko!“

Er begann zu weinen und schämte sich wie nie zuvor in seinem Leben.
Aber nicht wegen seiner Tränen.


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.
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#2
Oh man, nun muss ich mir aber auch ein paar Trännchen von der Wange wischen.

Danke Dir für diese schöne GeschichteBussi
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#3
Schöne Geschichte.:daumen:
Danke Hans.

Hast du die ganze Nacht durchgeschrieben?;-)


Liebe Grüße
[Bild: guntersch.gif]
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#4
Moin.

Oooh man.....da gucke ich aus lauter Neugier schon vor'm anziehen und Frühstück hier rein...und nu....[Bild: 6817c53c915664a28cbf52511e2048fe.gif]
Dankeschön für diese schöne traurige und doch gut ausgehende Geschichte, lieber Hans.
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#5
Gabi schrieb:Hast du die ganze Nacht durchgeschrieben?;-)
Nee nee, Schreiben geht in einem Rutsch
und in jedem Fall schneller als Pfadpixeln.
Aber danach beginnt das Ändern und Korrigieren,
und DAS dauert... Rolleyes

Danke dass es Euch gefällt [Bild: a015.gif]

Gruß,
Hans
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#6
Ok, ich oute mich jetzt mal. Als Kind kam ich nie über Mickey Maus und Tim und Struppi hinaus.
Als Jugendlicher schaffte ich dann zumindest die Groschenromane von der Serie John Sinclair MrGreen -sind die überhaupt Jemanden hier ein Begriff?-
Im Erwachsenenalter ist lesen für mich ein GRAUEN. Bis auf Schulungsunterlagen bei Weiterbildungen, lege ich die schwarze Schrift au weißem Papier gerne beiseite. :icon_vampirschreck: Der einzige Roman, den ich im Schrank stehen habe, ist “Der Herr der Ringe“. Vermutlich wird dieser eher zerfallen, bevor ich ihn zum lesen in die Hand nehme.

Dies zur Vorgeschichte.

Deine Zeilen, lieber Hans, die habe ich aber gelesen und sogar in einem durch. Was mit dem Hintergrundwissen meiner Vorgeschichte was heißen soll. Es war halt nicht so Weltfremd, sondern eine Erzählung wie aus dem Leben. So wie sie täglich um uns herum passiert und wir es schon nicht mehr bemerken.

Ich danke Dir, dass Du mit dieser kleinen Geschichte vielleicht bei manchen etwas dazu beigetragen hast, auch mal wieder etwas nach links und rechts zu schauen. Gerade jetzt zur Weihnachtszeit, wenn man durch die Regale huscht und sich nicht entschließen kann, ob es dieses Jahr nun ein Goldring oder eine silberne Kette werden soll. Wobei dieser Blick über den Tellerrand nicht nur auf diese Jahreszeit beschränkt sein sollte.
Aber nun gut, ich will es jetzt nicht weiter vertiefen.

Vielleicht hätte ich mich auch besser beim Türchen für den Weihnachtskalender mit etwas beschäftigt, was ich besser kann. So aber quälte ich mich mit einer Grafik rum. Die Geschichte von Dir war auf jeden Fall eine tolle Idee!!! :daumen:

Gruß
Andreas
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#7
Hallo Andreas,
das hast Du sehr schön geschrieben. Danke dafür! Bussi
Ich kann mich immer nicht so in Worte fassen. :?

[SIZE="1](Nebenbei bemerkt: Ich kenne auch die John Sinclair-Romane, die ich verschlungen hatte.) [/SIZE];-)
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#8
Hallo lieber Hans,

ich sage nur; Danke!
Ne wat is dat schön.

Liebe Grüße
Jürgen
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#9
Oh schön heute gibt es ne Geschichte!
Prima :daumen:
Und ich dachte dass ich mit den Gedichten schon aus dem Rahmen falle.
Na da bin ich ja auch morgen gespannt.

LG Marianne
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#10
Danke, Hans, für diese schöne und nachdenklich stimmende Weihnachtsgeschichte. Ich möchte mich den Worten von Andreas anschließen, er hat das sehr schön geschrieben: Wer mit dem Herzen schaut, sieht mehr als mit seinen Augen.

Liebe Grüße,

Jade
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