Impressionen... vom Leierkasten-Meeting
#1
.
Erst mal gibt‘s einen Rüffel für den lästerlichen Titel dieses Beitrags,
denn manche der Virtuosen hören das Wort "Leierkasten" gar nicht gern,
weil es ein wenig abfällig klingt. [Bild: a050.gif]

Und auch der irrigen Meinung, der Drehorgelmann sei eine Berliner Erfindung,
muss ich (sorry an Gabriele, Sille, Ina & Co) leider den Garaus machen.

Es waren die Österreicher, genauer gesagt: die Habsburger Kaiserin Maria Theresia,
die sich um 1765 einen neuen Job für die Invaliden des Siebenjährigen Krieges ausdachte.
Diese hockten zahlreich, arbeitslos und hungrig in der Gegend rum und hatten "no future".
Statt sie auf Staatskosten durchzufüttern, drückte sie ihnen einen Gewerbeschein in die Hand
und schickte sie zum Musizieren und Geldverdienen auf die Straßen Wiens.

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[Bild: 2857611.jpg]


Ein paar Jährchen später fanden dann auch die Preußen Gefallen am Leiersound,
und bis in meine Kindheit (die in den 60ern und 70ern des letzten Jahrhunderts stattfand)
gehörten alte, leicht zerfledderte Männer mit Äffchen und Drehorgel zum Straßenbild.

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[Bild: 2857583.jpg]


Das Repertoire der Kurbel-DJs reichte von aktuellen Gassenhauern
[SIZE="1]...(für alle U40: das Wort bedeutet die Charts Eurer Großeltern)[/SIZE]
über bekannte Bänkellieder und Moritaten
[SIZE="1]...(sowas Ähnliches machen auch Puff Daddy, 50 Cent und Eminem!)[/SIZE]
bis hin zu Operettenarien sowie dem unvermeidlichen Mackie Messer,
einem echt chilligen Song, in dem es um Poppen und Klatschen in'ner Streetgang geht.
Also das krass fette Original von Eurem Gangsta-Rap [Bild: a060.gif] [Bild: c020.gif]



Doch das war einmal und hat nichts mit dem Stelldichein zu tun,
zu dem sich eine Schar internationaler Drehorgelspieler
anlässlich des 25. Geburtstags des Deutschen Musikautomatenmuseums
im Paradehof des Bruchsaler Barockschlosses traf.

Von einer Ausnahme abgesehen waren sie allesamt Amateure,
die "nur" aus Liebhaberei durch die Lande ziehen und auftreten.

Zum Beispiel die Truppe um den Frontmann Werner Schnell,
"Der Leierkastenmann und seine tugendhaften Bänkelsänger":

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[Bild: 5001337003_4889179872_z.jpg]


Der Begriff "Bänkelsänger" entstand übrigens vor einigen Hundert Jahren,
als Schausteller mit Neuigkeiten aus fernen Gefilden durch die Lande zogen
und sie dem Volk an den Markttagen als eine Art singende Zeitung darboten.
Zwecks der Aufmerksamkeit stellten sie sich dabei auf eine kleine Holzbank, das Bänkel,
und ließen gleichzeitig per Zeigestock ihre Background-Multivision ablaufen.

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[Bild: 5001350483_d0f561e115_z.jpg]


Dabei gab es natürlich zu jedem Lied und zu jeder News die passende Bildergeschichte:

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[Bild: 5001954736_1bb592c3d4_z.jpg]



Zwei Urviecher der Szene sind Dr. Ullrich Wimmer aus dem Bergischen Land
und Axel Stüber aus Berlin, beide ausstaffiert im Stil der Drehorgel-Blütezeit:

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[Bild: 5001956414_6449c0a33a_z.jpg]


Gemeinsam mit Doris van Rhee bilden sie das Ensemble "Die Leierkastenheiterkeit".
Und wenn das Wetter - so wie am 1. Tag des Bruchsaler Meetings -
mal nicht so dolle ist, dann geben die Drei auch mal kurz ein Privatständchen
für einen patschnassen Fotografen, der vor dem Regen unter einen Torbogen flüchtet... ;-)

[SIZE="1]Ein Foto, das die 3 beim gemeinsamen Musizieren zeigt,
musste aus diesem Artikel leider wieder entfernt werden.
[/SIZE]


Auch wenn der Herr im nächsten Bild
für seine Darbietung das Textheft zu Hilfe nehmen muss:
Adrian Oswalt ist Vollprofi, wie es sich für einen Schwaben gehört!

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[Bild: 5001946146_639ae5afe5.jpg]


Nicht nur dass er Drehorgelkonzerte gibt, Lesungen veranstaltet,
komponiert, musikalische Mitmachprojekte für Kinder anbietet
und seinen Leierkasten akkustisch mit dem Jazzpiano verheiratet -
er stellt auch die Rollen, Lochbänder genannt, selber her
und verkauft sie an Hobbykurbler in nah und fern:

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[Bild: 5001948314_c10deeb8e7_z.jpg]


So unscheinbar, fast schon primitiv die Dinger anmuten,
ersetzen sie mit 20, 30 oder noch mehr Tonspuren ein ganzes Orchester.
Im Gehäuse eingelegt sieht das Lochband dann so aus:

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[Bild: 5001324181_b500c46611_z.jpg]


Die vielfältgisten Arten von Drehorgeln gab es zu bestaunen:
vom schlichten, aber handwerklich hochwertigen Klassiker...

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[Bild: 5001327145_f200f7f363_z.jpg]


... über phantasievoll verzierte Raritäten...

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... mit in stundenlanger Feinarbeit liebevoll gearbeiteten Details...

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[Bild: 5001340711_93fe5171d0_z.jpg]


... bis hin zum aufwändig gestalteten Kunstwerk
mit beweglichen Figuren und sich drehenden Tanzgruppen:

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[Bild: 5001957536_3afd09ee9b_z.jpg]

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[Bild: 5001359297_de476d692c_z.jpg]


Was zu solch einem Prunkstück nun gar nicht passen würde,
ist für den "normalen" Leierkasten fast schon ein Muss: das Äffchen!

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[Bild: 5001359859_60d73c84f7_z.jpg]


Früher war der Kerl lebendig - entweder angebunden oder so dressiert,
dass er über den Hinterhof flitzte und die aus den Fenstern geworfenen Münzen einsammelte.
Aber auch manche der heutigen Affen aus Holz und Plüsch entwickeln ein Eigenleben,
man muss nur wissen wie... ;-)

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[Bild: 5001331835_bed899b0db_z.jpg]

Mal kurz und unauffällig am Hebelchen gezogen,
und schon hebt sich ein Arm, klappt der Mund auf und zu,
wird der Kopf geschüttelt oder reckt sich dem Publikum ein Stinkefinger entgegen.

Besonders vorwitzige Zuschauer werden durch einen kleinen Wasserschlauch,
der sich dezent zwischen den Beinen des Affen versteckt, auch mal "angepinkelt"...


Das alles hat natürlich seinen Preis! :erschreck:
Während man eine Drehorgel Marke Eigenbau schon für rund € 1.000,-- hinkriegt,
kommt ein fertiges Instrument aus Axel Stübers Meisterwerkstatt
[SIZE="1](das ist der Mann mit der karierten Fliege weiter oben)[/SIZE]
auf 8-20.000 Euronen, und da ist noch lange nicht Schluss!
Dafür halten die Dinger aber auch 150 Jahre - sagt er ;-)

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[Bild: 5001335391_2768a9d0f2_z.jpg]



Zurück auf den Schlosshof...

Am 2. Tag war das Wetter endlich richtig sommerlich
und entsprechend groß der Andrang der Fans nostalgischer Klänge:

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[Bild: 5001944162_60cb0265b8_z.jpg]


Auch die Künstler selber mischten sich in ihren Spielpausen unters Volk.
Nicht nur zum Entspannen, sondern auch um kritisch zu begutachten,
was die Konkurrenz denn so zu bieten hat.
In Fachkreisen nennt man das Industriespionage [Bild: a100.gif]

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[Bild: 5001333479_d207d966ed_z.jpg]


Und während allerorten fleissig fotografiert und gefilmt
oder sich einfach über das schöne Festival gefreut wird...

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[Bild: 5003536530_764e0dcd59_z.jpg]


... lassen sich an der Bühne Groß und Klein in den Bann
der Künstler ziehen, die am Moritatenwettbewerb teilnehmen.

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[Bild: 5001348645_e263857311_z.jpg]


Kein Wunder, wenn man die Klappe so weit aufreißt... MrGreen

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[Bild: 5001338745_5fb8bb9b92_z.jpg]


Unter den Drehorglern befand sich übrigens auch ein Bruchsaler Stadtrat,
derweil im Publikum ein Bürgermeister der gegnerischen Partei thronte.
Kaum hatten die Beiden sich entdeckt, konnte man folgendem Dialog lauschen:

[SIZE="1]Stadtrat:[/SIZE]
[indent]"Wie schön, Herr Bürgermeister, dass ich
wenigstens heute Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe!"[/indent]

[SIZE="1]Bürgermeister: [/SIZE]
[indent]"Wird wohl daran liegen, dass Ihre Töne hier
wesentlich harmonischer klingen als in den Ratssitzungen..."[/indent]

[SIZE="1]Stadtrat:[/SIZE]
[indent]"Ich kann ja Ihnen zuliebe meine Reden
künftig mit dem Leierkasten begleiten."[/indent]

[SIZE="1]Bürgermeister: [/SIZE]
[indent]"Das würde das Niveau Ihrer Beiträge bestimmt anheben,
und leiern können Sie, das wissen wir ja alle..."[/indent]

[Bild: d015.gif]


Aber da wir hier am Oberrhein sym-badische Menschen sind,
nimmt man solche Plänkeleien mit Humor und ärgert sich nicht.
Hart genug, dass Kunstgenuss an einem warmen Sonntag im August
in ein dermaßen erhitzendes und anstrengendes Unterfangen ausarten kann...

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[Bild: 5001924344_f37e99ba3c_z.jpg]


Wer ein bisschen aufs G'schmäckle gekommen ist,
kann im Deutschen Musikautomatenmuseum in die Welt der Drehorgel eintauchen...

[INDENT][Bild: drehorgel_smilie_121.gif][/INDENT]


Gruß,
Hans


________________________________________________________________


[SIZE="1]Für Bild 0649 gilt:
Gemeinfrei/PD age
Urheber: O. Hamilton, 1892
Quelle: US Library of Congress

Für Bild 0648 gilt:
© 2007 Maren Beßler/pixelio
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#2
Hallo Hans.

Danke für Deinen Beitrag über die Geschichte des "Leierkastenmann's"
und seinem Instrument.
Sehr schöne Bilder und Drehorgeln!!:daumen:

Vor allen Dingen Deine Texte und Smilies dazu. :lol:
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#3
Hallo Hans...

bist doch immer wieder für eine Überraschung gut und dann noch so eine wirklich schöne Session.

Das Schauen war ein Genuss.:icon_bravo:
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#4
Danke fürs Gefallen!

Für die Überraschungen bin eigentlich nicht ICH gut,
sondern das passiert ständig und dauernd und überall -
man muss nur die Augen offen halten ;-)

Wenn ich zwischen der Arbeit Lust auf irgendein Fotothema habe
und nicht weiß, was es denn diesmal sein soll,
dann schaue ich zum Beispiel bei Meine Stadt oder bei Stadtfeste.de rein
oder besuche die Seiten von Tourismusvereinen.
Und schon habe ich eine Riesenauswahl an Events,
Ideen und Motiven in meiner Gegend oder wo ich demnächst eh bin.

Was man als Fotofan auch immer dabei haben sollte,
das ist ein Notizbuch oder noch besser ein kleines Diktiergerät.
Damit kann man unterwegs alle möglichen Ideen für Orte oder Themen festhalten
und ohne viel Tamtam die gemachten Fotos kurz beschreiben.

Was nützen die Exif, wenn man am Wochenende oder im Urlaub
ein paar Hundert Bilder gemacht hat und zu Hause nicht mehr weiß,
wo diese oder jene Kirche stand und wie der nette Sizilianer heißt,
der an der Strandbar gerade die Tochter anbaggert... MrGreen

Gruß,
Hans
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